Eigentlich wollte ich nur einfaches (aber unschlagbar deliziöses) Rezept für Brot mit Lievito Madre ohne Kneten vorstellen. Beim Schreiben bin ich dann im deutschsprachigen Internet aber auf soviel Quatsch gestoßen (siehe Titel dieses Beitrags), dass ich mich entschlossen habe, gleich eine ganze Artikelserie über Lievito Madre (abgekürzt LM) aufzulegen.
Der erste Beitrag – dieser hier – ist ein Überblicksartikel. Ich kläre unter anderem, warum man sich am Besten eine flüssige Variante des Lievito Madre zulegt, wie und wo man nach Informationen sucht, und was z.B. unsere italienischen Brüder und Schwestern mit LM anstellen. Wenn Du aber für einen bestimmten Aspekt interessierst und gleich zur Sache kommen möchtest, klicke einfach auf den Link zu dem Artikel.
Man kann Honig beim Ansetzen des Starters mit verwenden, so wie Joghurt, geriebene Apfelstücke, Rosinensud, in Wasser gegorene Melonen und was-sonst-noch. Auch Olivenöl wird bisweile erwähnt. Zu sagen, dass LM aus Honig und/oder Olivenöl gemacht werde, ist Unsinn.
- Nein, Lievito Madre wird nicht aus Honig oder Olivenöl gemacht. Und nein, Lievito Madre kommt nicht aus Italien (dieser Beitrag)
- Senza Impasto, no knead: Brot ohne Kneten – eine alte Technik aus Süditalien
- Wie stelle man einen Lievito Madre her?
- Lievito Madre täglich auffrischen und weitere Hinweise zur Pflege
- Langzeitkonservierung eines Lievito Madre durch Trockung
- Getrockneten Lievito Madre reaktivieren
- Rezept für ein perfektes Brot mit Lievito Madre – wie Sie es in keiner Bäckerei bekommen
- Eine Gärbox für den Sauerteig und Sauerteigstarter im Eigenbau
Lievito Madre = Starter für Weißmehlsauerteig
Lievito Madre ist ein sog. Starter für Sauerteige auf Weißmehlbasis. Diese Sauerteige sind (oder waren bis vor kurzem) bei uns historisch und geographisch bedingt völlig ungebräuchlich. Anders als das in unsere gemäßigten Breiten verwendete Anstellgut auf Basis von Roggenmehl, basiert Lievito Madre also (meist) auf Weizenmehl. Es gibt zwar Varianten und glutenfreie Ansätze mit Lievito Madre, aber 99% aller Gebäcke damit basieren auf Weißmehl von Weizen oder Hartweizen, wie z.B. das Pane Pugliese. Wer also mit Lievito Madre hantiert, macht so gut wie immer Gebäck aus Weißmehlsauerteig.
Die Führung von Roggensauerteig und Weismehlsauerteig sind grundverschieden. Während die Kunst des Umgangs mit Lievito Madre denn auch in Italien am höchsten entwickelt ist, ist die Fähigkeit, aus Roggen köstliches Brot zuzubereiten – historisch bedingt – im Alpenraum, der Schweiz, Österreich, Deutschland und Skandinavien angesiedelt. In Italien wiederum – ausgleichende Gerechtigkeit – ist kaum ein vernünftiges Roggenbrot zu bekommen, auch wenn das Interesse an Brot mit Segale, so heißt der Roggen auf italienisch, im Zunehmen begriffen ist.
Die Informationslage zum Lievito Madre
Die besten Beiträge zu Lievito Madre finden sich im englischsprachigen und vor allem im italienischen Netz. Italienisch ist aber nicht Jedermanns Sache: Für den Fall also, dass Du im englischsprachigen Netz recherchieren möchtest, startest Du deine Suche am Besten mit dem Begriff sourdough starter. Du mußt aber aufpassen, nicht auf eine Seite zu gelangen, in der das German Sourdough Bread besprochen wir. Dies ist unser oben erwähntes Roggensauerbrot, welches in den USA, wo es nicht erhältlich ist (es gibt dort Roggenbrot, es schmeckt aber meist abartig scheußlich), bei denen, die es kennen, sehr beliebt ist. Zwar dominieren im deutschsprachigen Netz zum Thema Lievito Madre vor allem Seiten mit jener aparten Mischung aus Dichtung und Halbwahrheit, der Fairness halber ist aber zu sagen, dass es neben Quatsch-Blogs auch Perlen der Qualität gibt. Ein Beispiel ist z.B. dieser hochwertige und sehr lesenswerte Blog. Kommen wir aber nun zum Thema.
Was ist Lievito Madre?
Lievito Madre ist ein Substrat aus Weizenmehl und Wasser, welches vor Hefen und Bakterien unterschiedlicher Herkunft nur so wimmelt. Man verwendet auch gern die Bezeichnung Starter dafür. Zum Brotbacken gibt man Lievito Madre in einem bestimmten Verhältnis (rezeptabhängig) zu einem Wasser-Mehl-Salz-Mix, worauf sich die Mikroorgamismen an die Fermentierung dieser Masse (auch „Teig” genannt) machen. Er wird dabei mehr oder weniger sauer (Abhängig u.a. von Temperatur, Fermentierungsdauer, Zusamensetzung des LM) und gewinnt duch die Entwickung von Kohlendioxid an Volumen. Bei süßem Feingebäck mit LM, z.B. dem norditalienischen Panettone, wird darauf geachtet, dass im gebackenen Endprodukt keine wahrnehmbare Säure entsteht.
Weil man mit LM Weizenmehlteig ansäuert, heisst der Teig oder das Verfahren auch Weizensauerteig oder Weißmehlsauerteig. Die spezifische mikrobielle Zusammensetzung jedes LM gibt ihm dabei seine charakteristischen Eigenschaften: Wie gut er gärt, bei welcher Temperatur sich das spezifische Biotop am wohlsten fühlt, wie er den Teig fermentiert, wieviel Kohlendioxid und welche und wieviele Geschmacksvorläuferstoffe er produziert, die beim Backen zu den Aromastoffen werden, die das Brot charakterisieren.
LM riecht und schmeckt angenehm fruchtig, Viele berichten von Honignoten. Das spezifische Biotop eine LM hängt dabei davon ab, aus welchem Material er anfangs geimpft wurde (Rosinen, Honig, Joghurt, gegorener Fruchhtmix), in welcher Umwelt er lebt (Besiedelung mit Organismen aus der Umgebung oder im Mehl), bei welchen Temperaturen er gehegt wir und welche Keime unserer Haut und Arbeitsgeräte umd Atems wir ihm geben.
Lievito Madre kommt nicht aus Italien und wird nicht aus Hoig und Olivenöl gemacht
Natursauerteig war vor der Entdeckung der Bierhefe die einzige Möglichkeit, Brot zu fermentieren. So haben Völker, die Brot aus Getreide buken, eine Tradition im Umgang damit. Wo Weizen angebaut wurde, kam Weizensauerteig zum Einsatz, in unseren Breiten entwickelte sich die Kunst des Roggensauerbrots. Die Kunst der Teiggärung ist also uralt: Zu sagen, LM komme aus Italien, ist natürlich nicht richtig: Der Begriff „Lievito Madre” kommt aus Italien – und Italien ist das unbestrittene Kompetenzzentrum – aber die Kunst des Sauerteigs sollen schon die Ägypter gekannt haben.
Die Kenntnis über die Brotherstellung war dabei in der ärmeren Bevölkerung früher weit verbreitet: So war es die Aufgabe meiner Großmutter, alle zwei Wochen ein großes Kontingent Roggenbrot für die ganze Familie zu backen. Ein Teil des gegorenen Teiges wurde dabei vor dem Backen entnommen und getrocknet und diente beim nöchsten Mal als Starter. Die Kenntnis über den Umgang mit Weißmehl war praktisch nicht vorhanden, weil sich die breite Masse weder Weizen noch Brot vom Bäcker leisten konnte.
Fest oder füssig?
Es gibt zwei Varianten von LM: Flüssig und fest. Der feste LM wird oft Pasta Madre Solida genannt, weil er eine teigige Konsistenz aufweist. Die flüssige Variante wird im Italienischen als li.co.li. bezeichnet (die Punkte sind kein Schreibfehler), was die Abkürzung ist für lievito in coltura liquida. Nach einem halbherzigen und nicht erfolgreichen Versuch mit festem LM bin ich erst durch Zufall und im zweiten Durchgang auf die flüssige Variante gestoßen (seitdem unterteile ich mein Leben in zwei Phasen: Die vor der Entdeckung des li.co.li und die danach). Li.co.li hat keine Nachteile und nur Vorteile: Er ist einfach herzustellen, idiotensicher zu pflegen, kaum tot zu kriegen und kann wochenlang in einem luftdichten Glas im Kühlschrank oder monatelang getrocknet konserviert werden.
Wenn Du dich mit dem Gedanken trägst, mit LM zu arbeiten und hierfür deinen eigenen Starter zu züchten, rate ich dir zur flüssigen Variante.
Wie stellt man einen Lievito Madre her?
Dieser Frage habe ich einen eigenen Beitrag gewidmet. So viel sei hier gesagt: Man mischt Mehl (405) mit „Etwas”, dass Pilze und Bakterien enthält. Dieses „Etwas” kann der Sud in Wasser eingeweichter Rosinen sein, pürierte, über Tage in Wasser vergorene Äpfel oder sonstiges Obstwasser, Honig, Joghurt oder eine wilde Mischung davon. Bei einer gleichmäßigen (!) Temperatur idealerweise zwischen 25–28 °C bilden sich nach wenigen Tagen Bläschen, die darauf hindeuten, dass sich in diesem Gebräu Aktivität entfaltet hat. Sowie die Masse etwas an Volumen zugenommen hat (ein Zeichen, dass die Hefen und Michsäurebakterien Kohlendioxid produzieren), werden 60 g der Masse entnommen (der Rest wird weggeworfen) und im Verhältnis Masse:Wasser:Mehl = 2:1:1 erneut gemischt. Diesen Vorgang nennt man Auffrischen. Es ergibt sich sich schnell ein regemäßiger Rhythmus von Volumenzunahme und anschließendem Zusammenfall (wenn die Mikroorgansimen das Mehl verwertet haben und keine Nahrung mehr haben und in diesem Zuge die CO2-Produktion zurückgeht). Nach 7–10 Tagen stellt man das Mischverhältnis dann auf 1:1:1 um und mischt einmal täglich jeweils 30 g Wasser (Umgebungstemperatur) mit 30 g Weißmehl (405) und 30 g des Lievito Madre. Der ideale Zeitpunkt des Fütterns ist der Zeitpunkt der maximalen Volumenausdehnung. Der Rest des Lievito Madre wird dabei jedesmal entsorgt. Nach spätestens einem Monat hat sich der Lievito Madre zu einem stabilen Biotop entwickelt, mit dem man Teig fermentieren kann. Der LM wird ab diesem Zeitpunkt täglich mindestens einmal gefüttert, wobei er über die Jahre immer besser werden soll (was ich für die Lebensdauer meiners LM bestötigen kann).
LM konservieren
Wer selten bäckt, in Urlaub fährt oder einfach eine längere Backpause einlegen möchte, muß den LM nicht wegwerfen. Kräftiger LM, den man gerade aufgefrischt hat, hält in einem luftdichten Glas im Kühlschrank mehrere Wochen. Wer noch länger konservieren möchte, kann den LM trocknen, wie in diesem Beitrag beschrieben ist.
Lievito Madre vs. Bäckerhefe
Bäckerhefe, oder Bierhefe, ist ein standardisiertes Material aus Industrieproduktion. Es besteht aus genau einem Lebewesen: Bäckerhefe. Sonst nichts. Bierhefe gärt stark – von allen Hefen am stärksten – und zuverlässig. LM hingegen ist ein Multikulti-Biotop aus mehreren Dutzend Pilzen und Bakterien. Diese ergänzen sich, interagieren miteinander und befinden sich bei einem stabilen LM in einem dynamischen Gleichgewicht. Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Säure der Milchhsäurebakterien: Diese sorgt zuverlässig dafür, dass z.B. Schimmel und E.coli keine Chance haben: Unerwünschte Keime werden also ferngehalten, ohne das wir etwas dazu tun müssen. Auch die sog. Brotkrankheit wird durch Sauerteig zuverlässig verhindert. Andererseits kommen bestimmte Hefen und andere Bakterien mit der Säure zurecht, so daß sich mit der Zeit ein dynamisches aber stabiles Gleichgewicht dieser nützlicher Mikroben einstellt (das nur teilweise erforscht ist). Die Hefen und Milchsärebaktieren sind zu jeweils 50% für die Anreicherung des Teiges mit Kohlendioxid verantwortlich, die Milchsäurebaktierien für die Säure (grob gesprochen). Während des Gehens produzieren die Mikroorganismen in komplexen Prozessketten eine Menge von Substanzen (z.B. Aminosäuren), die für das Brot geschmacksentscheidend sind.
Verglichen mit Bierhefe ist der Aufwand zur Pflege eines LM astronomisch hoch. Er muß täglich gefüttert werden, die Kontrolle der Temperatur ist kritisch. Der Aufwand lohnt aber, denn im Gegensatz zu Gebäck aus Bierhefe schmeckt Teig mit LM vollmundig und „komplex”. Brot aus LM ist auch länger haltbar und schmeckt auch nach Tage nach dem Backen gut. Daneben kann Gebäck mit LM eine gewollt säuerliche Note bekommen. Bierhefe gärt zwar schnell und zuverlässig, der Geschmack kann aber mit LM nicht ansatzweise mithalten.
Was wird speziell nur mit Lievito Madre gemacht?
LM ist die Basis für die die authentische Pizza, die Pizza Napoletana, der ich hier einen Beitrag gewidmet habe. Daneben wird der authentische Panettone, also der italienische Stollen, aus LM gemacht (was auch erklärt, warum guter Panettone so teuer ist, denn die Herstellung aus LM ist aufwendiger als der mit Bierhefe produzierte). Danaben wird das Pane Pugliese, ein Brot aus Hartweizengries aus Apulien, nach einem spezifischen Prozess mit LM hergestellt. Dessen bekanntester Vertreter ist das weltberühmte Pane di Altamura, für dessen Zubereitung lokale Hartweizensorten verwendet werden, deren Qualität schon zu Zeit der Römer bekannt gewesen sein soll. In vielen Gegenden der Welt wird Brot seit jeher mit LM bereitet, seit einigen Jahren erfährt LM eine Wiederbelebung und gute Brotbäcker haben zu Recht oft lokalen Kultstatus.
Kaum Hilfsmittel benötigt
Für die Arbeit mit Lievito Madre werden keine spezifischen Hilfsmittel benötigt. Porzellanschalen hat jeder zu Hause, nicht Wenige verfügen auch über eine große Teigschüssel. Desweiteren sind Silikonspachteln sehr nützlich beim Auffrischen und Auskratzen der Schalen, ein Laser-Thermometer hilft beim Bestimmen der Temperatur (und gehört sowieso zur Grundausstattung einer Küche). Falls Du noch etwas benötigst, kann ich dir die folgenden Produkte empfehlen, die ich selber verwende*.
Abschlußbemerkung: Leistet die Forschung zu LM einen Positivbeitrag?
Der LM mitsamt seinen Mikroorganismen ist Gegenstand der Forschung. Da Brot mit Bierhefe tendenziell langweilig schmeckt, ist die Industrie grundsätzich daran interessiert, bessere Produkte zur Verfügung zu haben. In den einschlägigen Publikationen wird auch regelmäßig die Notwendigkeit angeführt, mehr über die genauen Vorgänge im LM zu erfahren, mit dem Ziel, dessen Verabeitung zu vereinfachen und industrietauglich zu standardisieren – so wie die Bäckerhefe. Bislang mit wenig Erfolg, denn das Gemisch von Hefen und Bakterien eines LM erfordert viel Pflege und Aufmerksamkeit: Manchmal wird unser LM aus irgendeinem Grunde schwach, dann strotzt er wieder vor Energie – für uns und Manufakturen kein Problem, denn wir lernen mit dem LM zu leben wie mit einem Haustier – aber ein Alptraum für Großbäckereien und die Zauberlehrlinge von Dr. Oetker, Nestle & Konsorten, die für ihre Massenproduktion auf Standards angewiesen sind. Insgesamt könnte man pauschal sagen, dass die Forschung zum LM für uns Verbraucher keine positiven Resultate bringen wird: Das Wissen darüber, wie man Brot, Pizza und Feingebäck mit LM macht, besteht seit Jahrtausenden. Auch die Vielfalt der Getreidesorten und deren Eignung für bestimmte Gebäcke ist seit Menschengedenken Teil unseres kollektiven Schatzes. Die Aufgabe bestünde also eher darin, genau dieses Wissen zu bewahren und die Erfahrung möglichst breit weiterzugeben anstatt diedamit einhergehenden Kenntnisse zu monopolisieren. Ich lese wissenschaftliche Artikel über LM durchaus gerne (soweit ich sie verstehe) – aber ob mein Starter mehr von Kazachstania humilis oder Wickerhamomyces anomalus enthält, ist mir letzlich völlig egal. Wichtig ist, dass das Brot schmeckt.